Der Fasching¹ befindet sich im deutschen Sprachraum in einer Sinnkrise und kämpft um sein Überleben. Dieser traurige Umstand ist einerseits dem Internet² geschuldet. Denn wer heute gegen die Herrschenden protestieren möchte, der wiegelt Gesinnungsgenossen in sozialen Netzwerken auf, betreibt einen Blog oder unterschreibt eine Online-Petition. Zum anderen haben sich die systemimmanenten Fastnachtsvereine aber auch selbst in eine aussichtslose Situation manövriert, indem sie vor allem die Straßenkarnevale zu öffentlich finanzierten und institutionalisierten Partymeilen verkommen ließen. Galt in der närrischen Zeit stets der Umsturzgedanke, sind die Prunksitzungen seit den 2010er-Jahren domestizierte Veranstaltungen, auf denen ausgewählte Büttenredner dem regionalen Politik- und Medienadel verbal auf die Schulter klopfen. Nicht einmal die alten Römer waren derart ins Kraut geschossen, da sie den Brauch der Dezemberfreiheit bis zu ihrem Untergang hochhielten.
Innerhalb des Imperium Romanum wurde im Jahre 217 vor Christus³ erstmals der Gott Saturn in Form einer Festivität gehuldigt. Zu diesem Anlass durfte keine ständische Ordnung existieren, sodass an jedem 17. Dezember die Sklaven ihren Eigentümern gleichgestellt waren.
Dem toten König Saturn und dem von ihm herbeigeführten „Goldenen Zeitalter” bewahrte man freilich ein dankbares Andenken, ein Fest, welches man Saturnalia nannte.
Ziegler, Ruprecht: Antike Feste mit karnevalsken Zügen. In: Das Königreich der Narren. Fasching im Mittelalter. Hrsg. von Johannes Grabmayer. Friesach: Alpen-Adria-Universität Klagenfurt 2007. S. 45.
Bei dem Saufgelage namens Saturnalien sollten die Diener die Sau rauslassen und ihren Gebietern die Meinung geigen. Damit dies leichter fiel, wurde in jedem Domizil aus der Mitte der Rechtlosen ein Trinkkönig ausgewürfelt, der bis Mitternacht das Zepter übernahm. Dabei durfte den Befehlen des Rex bibendi nicht widersprochen werden, auch wenn das bedeutete, dass die sonst so argwöhnische Hausherrin nackt ein Ständchen trällern musste.
Derart erregt, konnte die Szenerie schnell in eine klassenüberschreitende Orgie ausarten.
Seewald, Berthold: Saturnalien im Alten Rom. welt.de (02/2023).
Aber nicht nur die Sklaven profitierten vom temporären Umsturz der sozialen Ordnung. Ebenso scheinen die Demütigungen und das Verrichten niederer Arbeiten eine willkommene Abwechslung für die saturierten römischen Bürger gewesen zu sein, weswegen das närrische Treiben während der hohen Kaiserzeit auf offiziell fünf Tage⁴ ausgedehnt wurde. Doch trotz der vielen Parallelen betonen Geschichtswissenschaftler gebetsmühlenartig, dass die heidnische Dezemberorgie kein Vorläufer unseres Faschings ist, da jener zum christlichen Brauchtum gehört.
Das Mittelalter
Nachdem Papst Gregor der Große um das Jahr 600⁵ den Aschermittwoch zum ersten Osterfastentag erklärt hatte, entwickelten sich im jungen Frankenreich neue Gewohnheiten. Zunächst fanden nach dem Dreikönigstag in den Dörfern spartanische Narrenfeste statt, bei denen lokale Obrigkeiten und Gottesdiener verballhornt wurden. Hierbei stolzierten Bauernsöhne mit selbst gemachten Kronen oder Kirchenhüten umher, währenddessen ihre Väter das Methorn kreisen ließen. So richtig verbindlich wurde die Sache aber erst, als im altbairischen Sprachraum das mittelhochdeutsche Wort vast-schanc auftauchte, welches eine Zeit vor baldigen Entbehrungen beschrieb.
Die erste urkundliche Erwähnung von Fasching datiert auf das Jahr 1272 mit vahschanch in Salzburg und vaschang in Mahrenberg an der Drau in der ehemaligen Untersteiermark.
Domenig, Christian: Fasching - Fastnacht - Karneval. In: Das Königreich der Narren. Fasching im Mittelalter. Hrsg. von Johannes Grabmayer. Friesach: Alpen-Adria-Universität Klagenfurt 2007. S. 36.
Ende des 13. Jahrhunderts hatte es sich bereits eingebürgert, dass am Donnerstag vor dem Aschermittwoch massenweise Vieh geschlachtet wurde, da während der bevorstehenden Fastenzeit ein Fleisch-, Eier- und Milchverbot herrschte.
- Durch den Überfluss bekamen Bäuerinnen und Mägde an der heutigen Weiberfastnacht ein deftiges Abendessen⁶ serviert, was sonst nie der Fall gewesen war.
Im Gegenzug dafür mussten die Frauen am darauffolgenden Samstag im Akkord Schmalzgebäck herstellen, um das übrige Tierfett zu verarbeiten.
Ab dem Rosenmontag zogen dann Völlerei, sexuelle Ausschweifungen und Obszönitäten in die Siedlungen des Heiligen Römischen Reichs ein. Zumindest in Friedenszeiten hielten sowohl Adel wie auch Klerus das öffentliche Verspotten ihrer Rituale und Laster aus. Der Pöbel hatte Narrenfreiheit, solange der Spuk am Abend des Faschingsdienstags vorbei war.
- Verkleidungen spielten jedoch erst ab dem späten 14. Jahrhundert eine Rolle.
Der Ursprung hierfür liegt in einem kaiserlichen Erlass, der Nürnberger Handwerksgesellen vom geltenden Maskierungsverbot befreite. Dadurch durften sich die Hammerschwinger während der sechs fetten Tage kostümieren und frivole Fastnachtsspiele aufführen.
Als „Wiege der (modernen) Fastnacht” gilt nicht das Rheinland, sondern die Stadt Nürnberg in Bayern. In der mittelfränkischen Stadt sind im ausgehenden Mittelalter die ersten Fastnachtsspiele entstanden.
Höffgen, Thomas: Karneval im alten Europa. Ursprung, Brauchtum und Bedeutung eines heidnischen Verkleidungskultes. Darmstadt: wbg 2020.
In der mittelfränkischen Reichsstadt formierten sich auch die ersten Faschingsgesellschaften, die den Karneval in organisierter Form auf die Straße brachten.
Die Frühmoderne
Martin Luther und seine Glaubensgenossen lehnten den Fasching ab, da sie bei dem Narrenfest vor dem Osterfasten keine Brücke zu Jesus Christus schlagen konnten. Wenn Umsturz sein muss, dann bitte kurz, gesittet und im Privaten, dachten die Reformatoren. Demzufolge zog der Brauch des Bohnenkönigs in den protestantisch geprägten Teil des Heiligen Römischen Reichs ein, der im angelsächsischen Kulturraum bereits äußerst populär war. Hierbei bereitete die Hausherrin am Abend des fünften Januar ein Brot oder einen Kuchen zu, dessen Teig eine Bohne enthielt. Nach dem Backvorgang wurde die Mehlspeise in die Anzahl der Domizilbewohner geteilt und am Morgen des Dreikönigstags verspeist. Wer auf die harte Hülsenfrucht biss, hatte bis Mitternacht das Sagen und durfte seinen ausgelosten Hofstaat⁷ beliebig herumkommandieren.
Darüber hinaus verlor der Fasching wegen des repressiven Absolutismus und den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges immer weiter an Bedeutung. Die Auferstehung des römisch-katholischen Narrenreichs erfolgte erst wieder im 18. Jahrhundert, als die Kölner Bourgeoisie den Zeitraum zwischen dem Dreikönigstag und Aschermittwoch⁸ erstmals als Karneval bezeichnete.
Die Bezeichnung Karneval ist auch in den romanischen Sprachen üblich und kommt aus dem Lateinischen. Sie ist seit 1699 in Deutschland belegt und wird seit 1779 in Köln verwendet.
Domenig, Christian: Fasching - Fastnacht - Karneval. In: Das Königreich der Narren. Fasching im Mittelalter. Hrsg. von Johannes Grabmayer. Friesach: Alpen-Adria-Universität Klagenfurt 2007. S. 33.
Der Zauber der Jecken wirkte jedoch nicht auf Napoleon Bonaparte, der das Fastnachtstreiben im Rheinbund endgültig abschaffte. Erst unter preußischer Herrschaft konnte in Köln im Jahre 1823 wieder ein Rosenmontagsumzug stattfinden, der aufgrund der Karlsbader Beschlüsse allerdings nichts mehr mit dem Umsturz der sozialen Ordnung zu tun hatte.
Auch nach seiner „gezähmten Wiedergeburt” wurden der Karneval und das, was in den tollen Tagen passierte, von der Obrigkeit scharf beobachtet.
Knoop, Hildegard: Brauchtum. Rheinischer Karneval. planet-wissen.de (02/2023).
Und so plätscherte es dahin, bis die Nationalsozialisten erste Reformen am Fasching vornahmen. Beispielsweise befahl Gauleiter Josef Grohé im Jahre 1936, dass Funkenmariechen ab sofort nur noch weiblich sein durften.
- Diese Entscheidung sollte eigentlich den Transvestitismus im Vaterland unterbinden, machte aber zudem den institutionalisierten Karneval für Frauen zugänglich, der bis dahin eine Herrenveranstaltung war.
Die Gardetänzerinnen ergriffen ihre Chance und entwickelten aus ihrer Leidenschaft einen anspruchsvollen Turniersport. Das ist auch der Grund, warum die Majoretten heutzutage mit Abstand das jüngste Zubehör einer Prunksitzung sind.
Der vergreiste Fasching
Das letzte große Aufbäumen des volksnahen Karnevals fand in den 1960er-Jahren statt, als jeder dreißigste Mainzer⁹ in einem Fastnachtsverein aktiv war. Die unterforderten Hausfrauen suchten Anlässe zum Tanzen und die zahlreichen Kinder wollten getrieben durch den ersten Winnetou-Film ihre Western-Kostüme präsentieren, weshalb parallel zu den öffentlichen Veranstaltungen unzählige Privatbälle organisiert wurden. Die Narren von damals sind auch heute diejenigen, die den Fasching irgendwie am Leben halten, da sich junge Menschen kaum noch für das institutionalisierte Prozedere interessieren. Kein Wunder, besticht der Sitzungskarneval mittlerweile mit dem Charme eines SPD-Ortsverbands. Hinzukommen immer höhere Preise für Eintritt und Verpflegung.
Erry Stoklosa: „Ich kann auch die jungen Leute verstehen, wenn sie keine Lust mehr auf die klassischen Sitzungen haben. Für eine Flasche Wasser neun Euro, für ein Kölsch drei Euro. Dazu kommt der Eintritt von mindestens 50 Euro. Dann noch ein Taxi, etwas essen.“
Schwamborn, Marcel: „Wir haben ein ernsthaftes Problem“ Karnevals-Experten blicken mit Sorgen auf Weiberfastnacht. express.de (02/2023).
Gleichzeitig sind sowohl die Weiberfastnacht wie auch die Rosenmontagsumzüge ausschließlich auf Gewinnmaximierung ausgelegt, indem sie ein Goldstrandpublikum ansprechen, das für Getränkeumsatzrekorde sorgt. Hingegen für die hyperventilierenden Digital Natives gelten Narrenveranstaltungen ohnehin als gefährliche Superspreader-Events.
- Schließlich dachte sich das Coronavirus am Faschingsdienstag¹⁰ des Jahres 2020: „Heute Tirol und morgen ganz Europa!”
Messen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, Weihnachtsfeiern¹¹ und der traditionelle Fasching werden mit der Baby-Boomer-Generation aussterben. Die Karnevalsvereine passen sich bereits an diese Gegebenheit an, indem sie fusionieren und ihre Galasitzungen in immer kleinere Hallen verlegen.
Absagen oder verschieben musste die Karnevalsgesellschaft Grün-Weiß Hamm zwar keine Veranstaltungen, aber die Westenschützenhalle mit über 250 Plätzen konnte sich der Verein für diese Session nicht mehr leisten.
Haarmann, Torsten & Annika Wilk: Karneval in Krisenzeiten: Wie die Hammer Vereine damit umgehen - Veranstaltungen fallen aus. wa.de (02/2023).
Mancherorts hat das gesellschaftlich anerkannte Fastnachtstreiben bereits seine Privilegien verloren und entwickelt sich zu einem privat-organisierten Hobbyevent. Beispielsweise müssen im niedersächsischen Ganderkesee die Teilnehmer des Faschingsumzugs drei Euro¹² bezahlen, um den Sicherheitsdienst und die Straßenreinigung zu finanzieren.
Verwandte Themen:
Krone basteln - für Prinzessinnen und Könige
Was ist der Osterhase? Drei Lernspiele zum Ausmalen
¹Die Worte Fasching, Fastnacht und Karneval werden im obigen Artikel als Synonyme verwendet. Im engeren Sinne beschreiben alle drei Begriffe eine mit Lustbarkeit ausgefüllte Zeit, die zwischen dem Dreikönigstag und Aschermittwoch stattfindet.
²Grandits, Ernst A.: Österreich privat. Fasching: Die närrische Zeit. 3sat (2022).
³Göttert, Karl-Heinz. Alle unsere Feste. Ihre Herkunft und Bedeutung. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2007.
⁴Ziegler, Ruprecht: Antike Feste mit karnevalesken Zügen. In: Das Königreich der Narren. Fasching im Mittelalter. Hrsg. von Johannes Grabmayer. Friesach: Alpen-Adria-Universität Klagenfurt 2007. S. 50.
⁵Höffgen, Thomas: Karneval im alten Europa. Ursprung, Brauchtum und Bedeutung eines heidnischen Verkleidungskultes. Darmstadt: wbg 2020.
⁶Friedl, Inge: So war’s der Brauch. Vom reichen Schatz an Bräuchen und Ritualen. Graz: Styria Verlag 2012.
⁷the artinspector: Jacob Jordaens - Der Bohnenkönig. youtube.com (02/2023).
⁸Bichler, Albert: Feste und Bräuche in Bayern im Jahreslauf. München: J. Berg Verlag 2013.
⁹Bratzler, Clemens: Was kostet der Fasching? SWR Retro - Abendschau (1963).
¹⁰Weissmann, Roland: Coronavirus: Zwei Fälle in Tirol bestätigt. orf.at (02/2023).
¹¹Vetter, Veronika Helga: Nikolaus: Stiefel aus Papier basteln - Verpackung für Weihnachtsfeiern. gws2.de (02/2023).
¹²Reinhold, Thorsten: Eintrittsgeld für Faschingsumzug sorgt für Streit. buten un binnen | ARD (2019).