Im Frühjahr 1763 endete der Siebenjährige Krieg. Das Königreich Preußen ging gemeinsam mit seinen Verbündeten als Sieger hervor, lag jedoch wirtschaftlich am Boden. Friedrich II. benötigte dringend Geld und reagierte mit hohen Einfuhrzöllen auf Kaffeebohnen, einer starken Besteuerung des Genussmittels sowie der Einführung eines staatlichen Röstereimonopols. Generell wäre es dem Alten Fritz lieber gewesen, sein Volk hätte auf Kolonialwaren verzichtet und stattdessen die heimische Brauwirtschaft¹ unterstützt. Um Schmuggel und privates Kaffeerösten zu unterbinden, ließ der findige König sogenannte Kaffeeriecher² einstellen. Diese durchstöberten Wohnungen, schnüffelten in Speisekammern und hoben notfalls auch die Deckel von Kochtöpfen. Bauern und Bürger, die sich diesen Zirkus ersparen wollten, griffen auf eine alte Technik zurück, die bereits seit dem späten 16. Jahrhundert³ bekannt war: Sie rösteten und mahlten die Wurzel einer Pflanze, die aus der Gemeinen Wegwarte kultiviert worden war, und stellten daraus Zichorienkaffee her. Der war zwar koffeinfrei, schmeckte aber erstaunlich nah am Original. Während die Bevölkerung das Getränk charmant als Landkaffee bezeichnete, nannten es die Franzosen Café de Prusse - also Preußenkaffee.
Im Jahr 1830 erhoben sich die südlichen Provinzen des Vereinigten Königreichs der Niederlande - Flamen und Wallonen - gegen die niederländische Herrschaft. Religiöse Spannungen, wirtschaftliche Ungleichheit und kulturelle Entfremdung führten zur Belgischen Revolution, an deren Ende Brüssel zur Hauptstadt des neu gegründeten Staates Belgien wurde. Vor den Toren der jungen Metropole lag die Gemeinde Schaerbeek, wo Bauern und Gärtner traditionell Obst und Gemüse anbauten.
Nirgends im Umkreis gab es so viele Esel, denn mit ihnen wurde die Ware in die Stadt gebracht. „Mehr Esel als Einwohner” hieß es eher scherzhaft als ehrenhalber.
Sparrer, Petra: Brüssel. 6., komplett überarb. u. akt. Aufl. Erlangen: Michael Müller Verlag 2018, S. 154.
Während des Kriegsgetöses soll der Legende nach ein Botaniker namens Jan Lammers seine Zichorienwurzeln in einem Keller unter der Erde versteckt haben. Je nach Erzählung wollte der clevere Neubelgier seine wertvollen Viktualien entweder vor nahenden Steuerbeamten⁴ oder vor marodierenden Soldaten in Sicherheit bringen. Die einen hätten Geld gewollt, die anderen Landkaffee.
Nach einigen Monaten, als sich die Lage beruhigt und König Leopold I. aus dem Hause Sachsen-Coburg sein Belgien stabilisiert hatte, erinnerte sich Lammers an die vergrabenen Wurzeln. Beim Nachsehen stellte er verwundert fest, dass die Pflanze ganz ohne Licht weiß-gelbliche, zarte Sprossen getrieben hatte, die obendrein schmackhaft und äußerst nährstoffreich⁵ waren. Kurz darauf kultivierte der Botaniker aus seiner Entdeckung den Witloof-Chicorée - was auf niederländisch „weißes Laub“ bedeutet - und der heute in Westeuropa⁶ zu den beliebtesten Wintergemüsen zählt.
Hingegen in Deutschland und Österreich fragen sich viele, was sie mit Chicorée anstellen sollen. Im Salat ist er den meisten zu bitter, weshalb die Pflanze oft mit kräftigen Käse- oder Béchamelsoßen kombiniert wird. Hipster in modernen Foodtrucks nutzen die schiffsförmigen Blätter inzwischen sogar als essbare Teller und richten darin Fingerfood an. Im Gegensatz zu Tomaten, Kartoffeln oder Gurken gehört Chicorée nicht zum Standardsortiment der Discounter - vor allem wegen seiner heiklen Lagerung. Er mag es dunkel und kühl, dann bleibt das belgische Wintergemüse etwa eine Woche⁷ frisch. In Biomärkten ist Chicorée ganzjährig erhältlich, meist in wiederverschließbaren Boxen, dafür aber mit einem Kilopreis von rund 9,90 Euro teurer als so manches Grillhähnchen.
Mit Chicorée basteln
Während die meisten deutschen Hobbyköche Chinakohl, Radicchio, Pak Choi und Chicorée ohnehin im Gemüseregal liegen lassen, statt sie zu unterscheiden, macht sich vor allem letzterer einen Namen als beliebter Naturstempel für Maler, Kulissenbauer oder Kunstlehrer.
Rosenblüten sind schwer zu zeichnen, weil ihre Blätter komplexe Schichten bilden. Bei größeren Projekten lässt sich das Problem mit einem Chicorée lösen. Ein Haushaltsgummi bündelt die Blätter, ein scharfer Schnitt legt die Stempelfläche frei und schon entstehen klare Rosenabdrücke auf Papier oder Stoff.
ℹ️ Am besten eignen sich Acrylfarben: Sie haften gut und sorgen für kräftige, gleichmäßige Abdrücke. Wasserfarben sind weniger deckend, dafür kinderfreundlicher in der Handhabung. Wichtig: Die Malkastentöpfchen sollten möglichst mit wenig Wasser schaumig angerührt werden, damit sie gut an der feuchten Schnittfläche des Chicorées haften bleiben.
Neben den dichten Knospen können auch einzelne Chicorée-Blätter als Stempel dienen - zum Beispiel, um Schablonen nicht einfach auszumalen, sondern mit feinen Blattstrukturen zu füllen. So entsteht etwa aus einem Buchstaben wie dem „T“ kein glatter Farbblock, sondern ein individuelles Muster mit lebendiger Textur.
Einzelne Chicorée-Blätter lassen sich ebenso hervorragend für freie Motive wie eine Palme einsetzen. Dafür wurde ein Blatt der Länge nach halbiert und die frische Schnittfläche als Druckfläche für den Stamm genutzt. Durch die natürliche Biegung ergibt sich ganz von selbst ein überzeugender, leicht gebogener Stammverlauf.
Für die Palmenwedel kamen die Blattreste erneut zum Einsatz: Sie wurden horizontal in kleine Abschnitte geschnitten, mit Wasserfarben bestrichen und v-förmig von der Krone nach außen gestempelt. So entstanden im Handumdrehen schwungvolle Blattwedel, die wie vom Wind bewegt wirken.
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¹Vetter, Veronika Helga: Bierfass basteln - Papierkorb für Tischabfälle. gws2.de (07/2025).
²Paczensky, Gert von & Anna Dünnebier: Leere Töpfe, volle Töpfe. Die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens. München: Albrecht Knaus Verlag GmbH 1994.
³Lucchin, Margherita & Varotto, Serena & Barcaccia, Gianni & Parrini, Paolo. (2008). Chicory and Endive. researchgate.net (07/2025).
⁴Gladis, Thomas: Formenmannigfaltigkeit und Nutzungsvielfalt von Chicorium intybus L. nutzpflanzenvielfalt.de (PDF) (07/2025).
⁵Hasskerl, Heide: Selbstversorgt durch die kalte Jahreszeit. Sorten, Kultur, Pflege, Rezepte. Graz: Leopold Stocker Verlag 2017, S. 83.
⁶Da Jaegere, Isabel: Overview of Witloof Chicory. frontiersin.org (PDF) (07/2025).
⁷Fickinger, Nico: Chicorée: Aromatisches Wintergemüse für Salate und Aufläufe. ndr.de (07/2025).