Im Jahre 1764¹ wussten preußische Staatsdiener, Gelehrte und Privatsekretäre nicht mehr, wie sie ihre Arbeit bewerkstelligen sollten, da es im ganzen Königreich an Papier fehlte. Daraufhin zog der Alte Fritz die Reißleine und stellte die Ausfuhr von Lumpen unter Strafe. Hadern waren bis zum Industrialisierungszeitalter² nämlich nahezu das einzige Fasermaterial, das für die Zellstoffherstellung herangezogen wurde. Wenn also manche Webseiten behaupten, dass die Menschen bereits im Mittelalter³ überschüssige Tinte mit kostbarem Papier gelöscht hätten, dann ist diese Aussage falsch. Stattdessen kam billiger Schreibsand zum Einsatz, der die Feuchtigkeit von den Dokumenten saugte. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum Friedrich der Große kein Löschpapier kennen konnte: Der nützliche Werkstoff besteht seit jeher aus Baumwolle, die vor der Französischen Revolution in Europa kaum eine Rolle spielte.
Die Vereinigten Staaten begannen nämlich erst in den 1790er-Jahren damit, die weißen Büschel des Malvengewächses großflächig zu exportieren, was an der Erfindung des Cotton Gin lag. Mithilfe dieser neuartigen Egreniermaschine konnten die Samen plötzlich in Windeseile von ihren Pelzmänteln befreit werden, wodurch sowohl die Produktionskosten⁴ wie auch die Verkaufspreise für Baumwollfasern beträchtlich sanken.
Julia Greer: The Cotton Gin was a simple Machine, which was able to mechanically separate the fibers from the seeds ten times more efficiently than a Slave.
Biography: Eli Whitney - Inventor of the Cotton Gin. youtube.com (05/2022).
Für die Papiererzeugung wären die langfasrigen Baumwollhaare aus Übersee allerdings immer noch zu teuer gewesen. Was aber war mit dem zwei bis sechs Millimeter⁵ dickem Fell, das der Cotton Gin an den Samen gelassen hatte?
- Diese sogenannten Linters⁶ fielen als Abfallprodukt bei der Gewinnung von Baumwollsaatöl⁷ an, woraufhin englische Papiermühlen es für erstrebenswert erachteten, mit diesem wertlosen Rohstoff zu experimentieren.
Bereits in den 1760er-Jahren hatte ein deutscher Botaniker namens Jacob Christian Schäffer erfolglos versucht, aus heimischen Wollgräsern und anderen Pflanzenteilen ein alltagstaugliches Papier herzustellen. Doch dieses Mal sollte es klappen - zumindest teilweise.
Denn auch wenn es sich weder zum Bedrucken noch zum Beschreiben eignete, erblickte vermutlich im Jahre 1795⁸ westlich von London ein Baumwollpapier das Licht der Welt, das zuverlässig überschüssige Tinte verschwinden lassen konnte, ohne dass dabei der Untergrund verschmierte. Das funktionierte damals wie heute nach dem gleichen Prinzip: So rufen die durstigen Löschblätter dank ihrer großporigen Zellstruktur den Kapillareffekt hervor, wodurch Wassermoleküle entgegen der Schwerkraft in die Cellulose eingesaugt und dort bis zum Verdunsten gehalten werden.
Die zellulären Kapillarkräfte, die zum Beispiel im Löschpapier wirksam werden, sind dieselben, die für die Versorgung auch des letzten Blattes in einem Baum verantwortlich sind.
Lorenz, Hans-Jürgen: Papiereigenschaften. In: Natürlich Papier. Ein Werkstoff mit Zukunft. Hrsg. von vdp Verband Deutscher Papierfabriken e. V. Bonn. Berlin: Edition Braus 1990. S. 78.
Bereits während der Napoleonischen Kriege schwappte das neuartige Büromaterial nach Kontinentaleuropa über und muss auch in deutschen Landen bekannt gewesen sein. Zumindest hatte der Dichter August von Kotzebue im Jahre 1803 das Löschpapier in einem Schauspiel namens Hugo Grotius verewigt.
Nachdem es dann eine gefühlte Ewigkeit als belangloser Alltagshelfer herhalten musste, führte eine Sächsin das profane Löschpapier zu neuer Blüte. Vor dem Ersten Weltkrieg trank jeder Deutsche circa zwei Kilogramm⁹ Röstkaffee im Jahr auf die türkische Weise, was bedeutete, dass die schwarzen Aufgüsse immer sandige Überraschungen bereithielten.
Man überbrühte den Kaffee mit heißem Wasser und hoffte, der Satz werde sich am Boden absetzen. Meist tat er dies nicht vollständig und landete doch in der Tasse.
Müller, Katja: Melitta Bentz. Von Dresden in alle Welt. In: Der Kaffeesatz im Löschpapier. Sächsische Industrie-Geschichten. 2. Auflage. Chemnitz: Chemnitzer Verlag 2008. S. 57.
Im Jahre 1908 hatte die Hausfrau Melitta Bentz keine Lust mehr, sich nach dem Kaffeegenuss die Körner aus den Zähnen zu picken, weshalb sie ein Löschblatt aus einem Schulheft ihres Sohnes zu einem Trichter faltete und die Bastelei in einen gelochten Messingtopf legte. Im Anschluss daran erfand die emsige Dresdnerin die Einwegkaffeefiltertüte, indem sie einige Gramm von der gepulverten Kolonialware in ihre selbst gemachte Zellstoffgrube gab und das Ganze mit heißem Wasser aufgoss.
Doch spätestens ab den 1950er-Jahren verlor das Löschpapier immer mehr an Bedeutung, was nicht nur daran lag, dass Filtertüten mittlerweile nach eigenem Rezept hergestellt wurden. Zudem kamen preiswerte Einwegkugelschreiber der Firma BIC auf den deutschen Markt, welche die klecksenden Füllfederhalter allmählich verdrängten.
Die Verbraucher waren mit dem Kugelschreiber zufrieden, der angeblich sogar einer Schreibmaschine Konkurrenz machen konnte: „120 Wörter in der Minute” verkündete stolz die Werbung.
Collen, Eric Le: Feder, Tinte und Papier. Die Geschichte schönen Schreibgeräts. Aus dem Französischen von Cornelia Panzacchi. Hildesheim: Gerstenberg Verlag 1999.
Neue Einsatzgebiete
Obwohl es heute immer noch in Schulheften oder Quittungsblöcken zu finden ist, dürfte das Löschpapier mittlerweile nur noch von Notaren und Kalligrafen zum Tintetrocknen verwendet werden. Trotzdem gehört das Baumwollerzeugnis längst nicht zum alten Eisen, sondern hat sich über die Jahre neue Anwendungsbereiche erschlossen.
- Der durstige Werkstoff ist beispielsweise hervorragend dafür geeignet, um darin abgelöste Briefmarken¹⁰ zu pressen.
- Auch als Haushaltshelfer kommt das saugfähige Multitalent zum Einsatz, da sich mit einem Löschblatt Wachsflecken herausbügeln¹¹ lassen.
Indessen vertreibt die findige Kosmetikindustrie das ehemalige Kaffeefiltermaterial unter seinem englischen Namen. Denn natürlich ist es mit modifizierten Blotting Papers ebenfalls möglich, die T-Zone von überschüssigem Talg zu befreien.
Blotting Papers funktionieren wie Löschblätter. Durch leichtes Andrücken an die Haut, saugen die Papierstücke überschüssigen Talg auf und mattieren durch eine leichte Puderbeschichtung zusätzlich.
VEIBZ: Blotting Paper bei dm: Löschblatt bei zerlaufener Schminke. youtube.com (05/2022).
Doch aufgepasst: Die Saugfähigkeit eines Löschpapiers hängt mehr von der Materialbeschaffenheit als von der Grammatur ab. So sind den gelben oder rosafarbenen Hefteinlagen beispielsweise bis zu 50% Holzschliff beigemischt, was den Kapillareffekt stark beeinträchtigt. Hingegen hochpreisige Sorten bestehen nahezu komplett aus Baumwollfasern und nehmen Wassermoleküle wie ein Schwamm auf.
- Wer seine Schätze trocken aufbewahren möchte, der sollte in Schreibwarengeschäften nach qualitätvollen Einzelbögen oder Blöcken Ausschau halten.
Im Gegensatz dazu sind für die Herstellung eines improvisierten Kaffeefilters alle Löschblätter geeignet, der Unterschied besteht lediglich darin, dass voluminösere Trichter nach dem Ausleeren des Satzes mehrfach verwendet werden können.
Kaffeefilter Origami
Um einen Pulvertrichter für eine klassische 1x4-Filterkaffeemaschine zu basteln, ist eine Papiergröße von mindestens 20 x 20 Zentimetern vonnöten. Dienen kleinere Löschblattquadrate als Ausgangsmaterial, kann der Origami-Becher wegen seines geringen Umfangs während des Aufbrühens umfallen, wodurch eine ungenießbare Brühe entsteht.
Nachdem ich mir ein gleichschenkliges Viereck mit einer Kantenlänge von 25 Zentimetern zurechtgeschnitten hatte, legte ich das Zellstoffprodukt so vor mich hin, dass eine Raute zu mir blickte. Gleich darauf erzeugte ich ein Dreieck, indem ich die untere Spitze auf ihr gegenüberliegendes Pendant legte und das Ganze in der Mitte knickte.
Als Nächstes führte ich die rechte Ecke nach innen, um nach circa 14 Zentimetern¹² eine diagonale Faltlinie am breiten Flügelhinterteil zu erzeugen.
- Unmittelbar danach wiederholte ich den Arbeitsschritt auf der entgegengesetzten Seite, wobei ich hierbei aufpassen musste, dass die verschränkten Arme im oberen Drittel des Motivs eine gerade Kante bildeten.
Dann zog ich die aufliegende Spitze im dreieckigen Kopfbereich so weit nach unten, bis ich das Ende dieses Papierausschnitts über die eben erzeugte Barriere knicken konnte.
Direkt im Anschluss nahm ich das Fünfeck auf, um es auf seine Rückseite zu drehen. Daraufhin stellte ich den Kaffeefilter fertig, indem ich auch das übrig gebliebene Dreieck nach unten blicken ließ. Zu guter Letzte drückte ich dann nicht nur die schrägen Außenkanten, sondern ebenso den Gefäßboden leicht nach innen, um das flache Origami-Motiv in einen aufnahmefähigen Pulvertrichter zu verwandeln.
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¹Bartels, Klaus B.: Papierherstellung in Deutschland. Von der Gründung der ersten Papierfabriken in Berlin und Brandenburg bis heute. Berlin-Brandenburg: be.bra wissenschaft verlag 2011.
²Papier in unserer Welt. Ein Handbuch. Hrsg. von Lothar Göttsching. Düsseldorf: ECON Verlag 1990.
³Bauer, Anatoli: Was ist Löschpapier & wozu gibt es Löschblätter? Aufklärung. uni-24.de (05/2022).
⁴Gordon, John Steele: Eli Whitney’s Invention. youtube.com (05/2022).
⁵Clasen, Wilhelm G.: Baumwoll-Linters. wgc.de (05/2022).
⁶Sandermann, Wilhelm: Die Kulturgeschichte des Papiers. 2. Auflage. Berlin: Springer-Verlag 1992.
⁷Science Channel: How Cotton is Processed in Factories. youtube.com (05/2022).
⁸Tyson, Julian: Blotting Paper and The Mill. easthagbourne.net (05/2022).
⁹Kaffee - vom Schmugglergut zum Lifestyle-Klassiker: drei Jahrhunderte Berliner Kaffeekultur. Hrsg. von Peter Lummel. Berlin-Brandenburg: be.bra verlag 2002.
¹⁰Hense, Jeanine: Briefmarken ablösen leicht gemacht - in nur 4 Schritten. meinherzsagtkunst.de (05/2022).
¹¹Stolz, Peter: ARD-Buffet - Ach was! Kerzenwachs. youtube.com (05/2022).
¹²Bei einem Papierquadrat von 25 x 25 Zentimetern.