In Deutschland zeichnet sich zweifellos eine Gerontokratie ab - immerhin war bereits 2018 jeder fünfte Bundesbürger¹ über 65 Jahre alt. Seitdem die geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1965 allmählich in den Ruhestand wechseln, macht sich in vielen Bereichen des Systems spürbare Unruhe breit. „Wie sollen wir das finanzieren?”, rätseln die Experten im Sozialministerium, während mittelständische Unternehmen fieberhaft überlegen, wie sie die ausscheidenden Fachkräfte adäquat ersetzen können. Dabei wird die Lage oft dramatischer dargestellt, als sie tatsächlich ist. Denn auch wenn die vielkritisierten² Babyboomer nicht ohne Makel sind, haben sie in Sachen Arbeitsmoral damals wie heute Maßstäbe gesetzt.
Uwe Stadelmeyer: [Ältere Kollegen] sind oftmals die letzte Notrufnummer, wenn man einen Ausfall zu kompensieren hat. Das sind diejenigen, die sehr flexibel sind und gerne auch mal kurzfristig zum Dienst kommen.
Schmitt, Nicole: Silver Worker am Klinikum Nürnberg. Frankenschau aktuell | BR (2024).
Drei von vier Vertreter der Generation Z fürchten sich vor Altersarmut - kein Wunder, wenn im Jahr 2021 nur noch 2,1 Arbeitnehmer³ einen Rentner finanzieren mussten. Dabei wird oft übersehen, dass die Produktivität dank Robotik und KI-gestützter Systeme nicht nur kontinuierlich steigt, sondern auch immer unabhängiger von menschlicher Arbeitskraft wird. Zudem lebten die Babyboomer deutlich gesünder als ihre Eltern, weshalb mittlerweile 19% der Ruheständler⁴ weiterhin berufstätig sind.
Im Jahr 2002 sang die Band Echt: „Hey, du willst ’n Job bei der Deutschen Bank, am besten für ein Leben lang.” Tatsächlich strebten viele Deutsche um die Jahrtausendwende einen frühen Ruhestand an. Gleichzeitig entwickelten Arbeitgeber großzügige Abfindungspakete und Vorruhestandsregelungen, um erfahrene Mitarbeiter - damals als Best Ager bezeichnet - noch vor ihrem 60. Geburtstag zu verabschieden.
Noch vor wenigen Jahren galt, möglichst früh in Rente gehen. Milliarden gaben Unternehmen und Staat für Frühverrentung und Vorruhestandsregelungen aus.
Wilms, M., P. Schneider u. a.: Silverworker (Plusminus). youtube.com (12/2024).
Heute hingegen beschäftigen vier von zehn Unternehmen Arbeitnehmer im Ruhestand. Rund 40% der Berufstätigen⁵ über 50 ziehen einen Jobwechsel in Betracht. Das sind deutliche Hinweise darauf, dass die Rente für viele Babyboomer nicht mehr das ultimative Lebensziel⁶ darstellt.
Kein Bilderbuchopa
In den allseits beliebten Armutsreportagen taucht oft ein älterer Herr auf, der vormittags bei der Tafel ansteht und nachmittags eine Straßenzeitung verkauft. Häufig wird dabei ein Protagonist mit DDR-Vergangenheit gezeigt, der diverse Schicksalsschläge durchleben musste. Diese Sonderfälle haben jedoch wenig mit der Lebensrealität der meisten Großväter im Jahr 2024 gemein. Laut eigener Aussage arbeiten die Babyboomer-Opas nicht aus finanzieller Not. Vielmehr geht es den Silverworkern darum, ihren hohen Lebensstandard zu sichern und den Kontakt zu anderen Menschen zu pflegen. Insbesondere für Männer spielt dabei auch das Prestige ihres Jobs eine wichtige Rolle.
Am wahrscheinlichsten bleiben die im Ruhestand berufstätig, die mehr als 250 000 Euro besitzen.
Hagelüken, Alexander: Lasst uns länger arbeiten. Arbeitswelt umgestalten, Rente retten - im Alter aktiv und zufrieden sein. München: Droemer Verlag 2019.
Doch welche gesellschaftlichen Konsequenzen ergeben sich, wenn von den sieben Millionen⁷ Erwerbstätigen, die zwischen 1955 und 1965 geboren wurden, viele im Ruhestand weiterarbeiten? Unweigerlich entstehen dadurch neue Familienkonstellationen.
- Wann soll Opa zwischen Besuchen im Fitnessstudio, beruflichen Verpflichtungen, Meet5-Gruppentreffen und wohlverdienter Erholung noch Zeit für seine Enkelkinder finden?
Während die Millennials häufig noch von der engagierten Erziehung ihrer Großeltern profitieren konnten, sind Eltern heute zunehmend auf öffentliche Betreuungseinrichtungen angewiesen - mit der Folge, dass Deutschlands Kindertagesstätten seit geraumer Zeit an ihrer Belastungsgrenze operieren.
Obwohl Kita ein familienergänzendes Angebot sein soll, lassen uns die Eltern im Stich. Wenn ich Einladungen zum Laternenbasteln verschicke, ernte ich nur Spott und Häme.
Siller-Baldini, Alessia: Martinsgans - Kita benötigt Hilfe. gws2.de (2024).
Ebenso haben sich Babysitting und schulische Nachhilfe durch die fehlende innerfamiliäre Unterstützung zu florierenden Geschäftszweigen entwickelt, in denen Stundensätze von über 20,00 Euro⁸ längst zur Norm geworden sind.
Die heutigen Silverworker empfinden sich häufig erst mit Mitte 70 als alt, setzen ihre Tätigkeit im Ruhestand oft aus Freude fort und tragen mit ihrem Engagement dazu bei, das Rentenproblem nicht weiter zu verschärfen.
Es sind bereits 100 Milliarden, die die Staatskasse zur Rentenkasse dazu finanziert. Das ist ein Viertel des Bundeshaushaltes.
Weber, Florian: Rente mit 70 - müssen wir länger arbeiten? Zur Sache Baden-Württemberg! SWR (2024).
Dennoch haben viele Babyboomer mehr als 40 Jahre in Vollzeit gearbeitet und sehen sich heute einer Arbeitswelt mit stark verdichteten Prozessen gegenüber.
- Übermut ist daher kein weiser Ratgeber, da krankheitsbedingte Fehltage von jüngeren Kollegen aufgefangen werden müssen - ähnlich wie die „neuen Väter” die Abwesenheit von Großeltern kompensieren.
Es lohnt sich, innezuhalten: So schön es auch ist, Geld zu verdienen und mit dem SUV ins Nachbarland zu reisen - am Ende zählen keine prall gefüllten Konten, sondern die Erinnerungen an kostbare Momente mit der Familie. Das Konto „Erinnerung“ wächst nur, wenn wir bewusst Zeit für unsere Liebsten investieren. Und das ist die wertvollste Rendite, die das Leben zu bieten hat.
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¹Jeschke, Anne: Wenn Eltern alt werden. Ein schönes Alter. In: ÖKO-TEST Nr. 9 (2018). S. 63.
²Das Kraftfuttermischwerk: Der WDR-Kinderchor singt „Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau“. youtube.com (12/2024).
³Scherello, Dinah: Altersarmut: Was DU jetzt dagegen tun MUSST! $AFE | ARD (2023).
⁴Fiebig, Ulla: Diskussion um Rente - müssen wir immer länger arbeiten? Zur Sache Rheinland-Pfalz | SWR (2024).
⁵Müller, Sebastian: Jobwechsel mit 50+. ARD-Buffet (2023).
⁶Kölling, Nadja: Die Senior-Azubis. 37 Grad | ZDF (2022).
⁷Huppert, Andreas: Arbeiten als Rentner | ZDFheute (2024).
⁸Vetter, Veronika Helga: Vorlagen: Nachhilfe geben - extravagante Anzeigen fürs Schwarze Brett. gws2.de (12/2024).
Opa Johann sagt:
Guten Morgen, ich bin Johann, 58 und plötzlich Opa auf Vollzeit. Der Artikel trifft ins Schwarze: Moderne Großväter sind mehr als nur Geschichten-Erzähler oder Bastelhelfer. Sie sind Brückenbauer zwischen den Generationen und manchmal, wie in meinem Fall, auch zwischen Hoffnung und Unsicherheit.
Vor 204 Tagen wurde ich nach 19 Jahren in der Zuliefererbranche (Großraum Neckarsulm) mit 400 Kollegen entlassen. Die Insolvenz meines Betriebs war der Schlusspunkt einer Ära, meine Branche existiert hier kaum noch. Bis zur Rente sind es noch neun Jahre. Was tun? Diese Frage stellt sich mir täglich.
Doch während ich mich bewerbe und nach neuen Wegen suche, schenkt mir mein Enkel etwas Unbezahlbares, Sinn. Ihn zu betreuen, hält mich nicht nur fit, es erinnert mich daran, was wirklich zählt. Meine Tochter kann berufstätig sein, und ich? Ich bin plötzlich der Fels in ihrer Brandung. Meine Frau scherzt, ich solle Kindergärtner werden aber vier Jahre Ausbildung mit 58? Da muss ich schmunzeln. Aber wer weiß, vielleicht steckt ein Körnchen Wahrheit darin.
Opa sein ist kein Beruf, es ist eine Berufung. Und manchmal, denke ich, ist das schon genug. Trotzdem: Ich würde gerne wieder arbeiten, etwas mit den Händen schaffen, mich nützlich fühlen. Ob das noch klappt? Ich weiß es nicht. Aber solange ich meinem Enkel die Welt erklären kann bin ich reich.
PS: Die schwarz-weiße Malvorlage zum Ausdrucken und Kolorieren finde ich eine wunderbare Idee! Vielleicht male ich sie mit meinem Enkel zusammen aus als Erinnerung daran, dass auch in unsicheren Zeiten Farbe und Freude Platz haben.